The Big Flat Now: Über Retrozyklen und digitale Atemporalität
Wie uns Soziale Medien rückwärtsgewandt in die Vergangenheit einsperren.
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Eins der faszinierendsten und am schwersten zu beschreibenden Phänomene des digitalen Zeitalters ist ihre lähmende Auswirkung auf Innovationskraft der Kunst, was sich im sogenannten "Retrofieber" äußert. Ich beobachte diese Nostalgiewelle, die bereits, und das muss man sich als Kulturliebhaber ständig neu vergegenwärtigen, seit mehr als 20 Jahren weite Teile der (Pop)kultur beherrscht. Auch scheint es so, als ob sich die "Retrozyklen" immer weiter verkleinern. Griffen die 1980er Jahre auf die 1950er Jahre zurück (Back To The Future), so bezogen sich die 1990er auf die 70er (House, Punk/Alternative) und heute haben Kids in Sozialen Medien nostalgische Wallungen für die Tumblr-Ästhetik und den Indie-Pop-Sound von 2014. Wir nähern uns anscheinend einer Gleichzeitigkeit aller Ästhetiken an.
Ich erinnere mich an einen der ersten Retro-Electro-Tracks Ende der 90er Jahre, I-Fs "Space Invaders Are Smoking Grass", der eine wahre Flut von Electro-Tracks auslöste, die sich am Sound elektronischer Musik der 1980er Jahre orientierte. Seit damals ist die Nostalgie für diese Ära ungebrochen, äußerte sich Anfang der 2000er Jahre in RTL-Sendungen wie "Die beliebtesten Songs der 80er", mündete in globale Phänomene wie "Stranger Things" und zeigte in der jüngst in der so erfolgreichen wie mutlosen Neuauflage der "Ghostbusters", wie starr und bewegungslos Kulturprodukte in der Ära der digitalen Rückwärtsgewandtheit geworden sind.
Es gibt viele Erklärungsansätze des Phänomens. Zuerst beschrieben und analysiert wurde das Phänomen von Musikjournalist Simon Reynolds in seinem 2011er Buch Retromania, Zygmunt Bauman erkennt in der Regression seines Retrotopias eine Flucht vor den nicht erfüllten Versprechungen des neoliberalen Kapitalismus.
Ich möchte eine weitere Lesart des Phänomens anbieten, die sich vor allem auf Musik und Pop bezieht: Digitale Technik hat die analogen Möglichkeiten der Soundproduktion assimiliert und ihnen Editiermöglichkeiten und Modulation hinzugefügt, sowie die Erschließung weiterer, nicht-analoger Soundwelten ermöglicht. Sampling und moderne Aufnahmetechnik schließt die analoge Klangwelt ein in das Digital und fügt weitere, rein digital ermöglichte Klänge hinzu. Die Entdeckung dieser Soundwelten ist, nach einigen experimentellen und spielerischen Phasen, weitgehend abgeschlossen. Musikalische Innovation wird immer und immer kleinteiliger, spezialisierter, selbstähnlicher und entwickelt im langfristigen Maßstab fraktale Eigenschaften.
Flankiert wird diese Entwicklung durch eine fortschreitende Demokratisierung der Produktionsmittel. Jeden Tag werden 60.000 neue Songs auf Spotify veröffentlicht. Vor nur zwei Jahren waren das noch 40.000 Lieder. Die Anzahl der Songs, die wenigstens einmal gestreamt wurde, wächst jedes Jahr um rund 3 Millionen. Zu keiner Zeit war es so einfach, Musik aufzunehmen und professionell zu produzieren. Einer der größten Popstars unserer Zeit, Billy Eilish, startete mit ihrem Bruder in als Bedroom-Producer. Technische Innovationen wie generative Musik von Algorithmen, Algo-Raves oder memetische Remix-Produktionen auf Tiktok werden diese Entwicklungen weiter anheizen. Musik offenbart, gebündelt in der Streaming-App, ihren angeblich unendlichen Klangraum, der aber bereits von Millionen von Producern und Usern erforscht und urbar gemacht wurde. Es bleibt das Spiel mit dem Vergangenen.
Sound-Ästhetik wird ein unendlich weites Land aus Klang, das an allen Stellen ähnlich aussieht und in dem, entgegen unseren Erfahrungen aus vergangenen Jahrzehnten, in denen nahezu jede Dekade einen eigenen Sound und eigene Moden entwickelte, alle denkbaren Ästhetiken gleichzeitig präsent und sichtbar sind. Avant Garde wird ironisch gebrochen fade (Normcore) oder hyperästhetisch (Hyperpop).
Tatsächliche Innovation, wie etwa der Durchbruch des Hip-Hop in den 70er und 80er Jahren mit einer völlig neuen Ästhetik und Klangwelt, oder die beinahe zufällige "Entdeckung" repetitiver, programmierbarer Beats und Klangsequenzen, also House und Techno, ist in einem dergestalt zu Ende erforschten ästhetischen Raum nicht mehr möglich. Was bleibt ist der Einbezug immer weiterer Vergangenheiten, die Retromanie.
Das Magazin Real Life veröffentlicht nun einen Auszug aus Grafton Tanners neu erschienenen Buch zu diesem Thema, "The Hours Have Lost Their Clock: The Politics of Nostalgia".
Yesterday Once More - Algorithms are changing how we experience nostalgia
Predictive algorithms don’t really predict anything; they just make certain kinds of pasts repeatedly reappear. (...) At scale, algorithmic determinism locks people and events in repeating loops, a homogenizing process that mirrors a larger homogenization of society itself: the flattening of unique places into anonymous nonplaces and the consolidation of media corporations. (...)
Reducing culture and consumers to data will continue to produce the same representations of nostalgia for backward-looking algorithms to recommend. Those who worship the power of digital technology may believe that we are on track to a utopia where people can escape from the future we’ve made. But if we let algorithms predict the future for us all, we will find there is nowhere to go but back.
Weitere, sehr gelungene Texte zum (in meinen Augen digital bedingte) kulturellen Stillstand:
Vortrag von Mark Fisher: The Slow Cancellation of the Future
Jack Self im Berliner Kunstmagazin 032c: The Big Flat Now.
Justin E.H.Smith: Skip the Intro? On Time, Storytelling, and the New “Content” Industry
Storytelling, the narrative art, has for most of human history been a communally shared tekhné for orienting the individual lives of a community’s members by placing them in a shared cosmological and historical frame. (...) In order to establish this register of truth, typically a sort of incantation is made at the beginning, marking a shift to “another time”. (...)
It should be clear by now that I think the new “content” monopoly portends a dark future indeed for the narrative arts. Nowhere is this clearer to me than in the “Skip Intro” option that a viewer is given at the start of a new episode of any made-for-binge-watching series. To skip the intro is not just to “get on with things”, as an innocent viewer might imagine. It is rather to opt out of the transition into ritual time that storytelling requires, and to permit us to misapprehend the nature of the material with which we are engaging. I believe this is an inevitable rather than a merely unfortunate consequence of the reconception of the narrative art as “content”: the hooks and incentives that keep you attentive to it need be no different from the non-narrative gratification mechanisms built into video games and social media.
Social media is pure temporality unstructured by narrative. You move from stimuli to lulls to stimuli, from lulls to lulz and back again, but there is no development or progression or conceivable sense of possible completion. In this sense, social media is also the opposite of poetry, again conceived as the condensing of an idea, perhaps an idea with some narrative dimension to it, into a single instant or point. When we zoom out from the stimuli embedded in “content”, whether the likes of social media or the plot conventions of made-for-binging television, what we see is a uniform mass, a homoeomery, something that has neither the atemporal perfection of poetry nor the purposive temporal structure of prose, but only the unstructured lapsing of time — pure purposeless chronophagy.