The Twitter Files and the dilemma of viral control
Zuerst veröffentlicht auf dem Expertenportal Piqd.
English translation below.
The Twitter Files
Seit einer Woche nun veröffentlichen die investigativen Indie-Journalisten Matt Taibbi und Bari Weiss interne Dokumente die belegen sollen, dass Twitter seine Macht missbraucht, journalistische Berichterstattung im Zuge das US-Wahlkampfs 2020 unterdrückt und konservative Nutzer systematisch zensiert haben soll. Die Dokumente wurden von Elon Musk nach der Übernahme des Konzerns einer Reihe von unabhängigen Journalisten zugänglich gemacht.
Die Veröffentlichungen sind umstritten, die Meinungen reichen von "Nothingburger" (Politico) und "Verschwörungstheorien" und "PR" (NPR) auf der einen Seite bis hin zu Vorwürfen der Täuschung an den ehemaligen CEO Jack Dorsey (WaPo) und hart formulierten Zensurbeschuldigungen an links-aktivistische Journalisten und Mitarbeiter des Social Media-Konzerns (WSJ). (Jack Dorsey selbst fordert übrigens noch mehr Twitter-Files und unterstützt das Vorgehen von Elon Musk.)
Bari Weiss hat ihre Texte über die Twitter-Files in ihrem Substack-Newsletter ohne Bezahlschranke in (bislang) drei Teilen veröffentlicht: Twitter's Secret Blacklists, Why Twitter Really Banned Trump, Our Reporting at Twitter
Der von mir gepiqte Text in der Welt ist neben einem Text in der NZZ einer der wenigen deutschsprachigen Veröffentlichungen, die sich ausführlicher mit den Twitter-Files beschäftigen und eine Einordnung anbieten, die über die reine Aufzählung der Fakten hinausgeht. Auch deshalb ist es hilfreich, die Berichterstattung mit dem Volumen der Berichterstattung über die sogenannten Facebook-Files zu vergleichen. Ich alleine habe hier auf Piqd insgesamt vier Posts über die Veröffentlichungen der Dokumente von Whistleblowerin Frances Haugen veröffentlicht (1, 2, 3, 4), die Berichterstattung über die internen Verfehlungen des Konzerns wirkt bis heute nach und Zuckerberg selbst wurde vor einen Untersuchungsausschuss des Kongresses zitiert. Die Berichterstattung über die Twitter-Files und ihre Reichweite ist im Gegensatz hierzu überschaubar.
Dabei ist es so, dass Twitter seit 2014 die größte Quelle viraler Phänomene darstellte. Virale Phänomene sind mehr als lustige Bilder und Tanz-Videos, sondern Meme sind auch politische Strömungen und Haltungen, Konsensfindung und konvergierende Berichterstattungen -- vor allem auf einer Plattform, die zwar nie die größten Nutzerzahlen aufweisen konnte und im Mainstream eine nur untergeordnete Rolle spielte, aber schon immer die Plattform der Wahl für Journalisten darstellte. Die internen Maßnahmen zur Lenkung viraler Ströme auf einer Plattform wie Twitter, das Lieblingsspielzeug der vierten Gewalt, die maßgeblich ist für die Formierung der öffentlichen Meinung, sind also prinzipiell von enormen Interesse -- auch und gerade für Journalisten.
Meine eigene Meinung zu all dem ist nicht konsistent. Einerseits halte ich virale Dynamiken für essenziell und für den Kern von gesellschaftlicher Kommunikation im 21. Jahrhundert. Eine opake Kontrolle durch einen elitären Kreis aktivistischer Mitarbeiter erscheint mir deshalb --sagen wir mal sehr diplomatisch formuliert-- suboptimal.
Andererseits bietet die Demokratisierung der Publishing-Mechanismen durch digitale soziale Medien nicht nur Mitarbeitern von Plattformen Kontrollmöglichkeiten von viralen Dynamiken, sondern jedem Nutzer. Und so finden alltäglich medienmanipulative Kommunikationstechniken auf allen Plattformen (insbesondere aber auf Twitter) Anwendung, die von Dogwhistling bis Sealioning reichen und genau dasselbe Ziel verfolgen: Die (Un)sichtbarmachung und Reichweitenverstärkung/-minderung von Inhalten. Die Strategien sind vielfältig und backstage-collusion ist eine sehr erfolgversprechende. Die Demokratisierung von Publishing-Technologien bedeutet auch die Demokratisierung von Informationskriegen — und Twitter war und ist das beliebteste Schlachtfeld. Journalisten wissen dass, auch deshalb lieb(t)en sie Twitter.
Ein vielgehörtes Argument für Shadowbanning und die Sperrung von Accounts ist, dass Twitter eine private Firma sei und tun und lassen kann, was sie will. Folgt man diesem Argument, muss man allerdings auch die enorme Macht anerkennen, die eine solche Plattform innehat, wenn sie den Hauptfokus viraler Dynamiken im gesamten Internet darstellt. Twitter war der zentrale Umschlagplatz für die Distribution von Ideen und Memes -- in Form nicht nur von Witzen und Bilderchen, sondern viralen intellektuellen Konfigurationen: MeToo oder Aufschrei etwa wären ohne Twitter nicht möglich gewesen, oder hätten sehr viel anders ausgesehen. Diese Tatsache mit der Fähigkeit auszugleichen, diese Aufmerksamkeitsströme nach gutdünken zu lenken und im zweifelsfall zu stören ist eine gigantische Verantwortung, und ich persönlich fühle mich mit der Kontrolle durch woke-aktivistische Mitarbeiter genauso unwohl, wie mit der nur oberflächlichen und inkonsistenten Laissez Faire-Haltung des libertären Musk.
Ich persönlich bevorzuge eine Vision von Twitter als offenes Protokoll als öffentliches Eigentum. Eine solche Organisation der "Denkprozesse des Hive Mind" als "Fast Microblogging on the Web" könnte das Misstrauen gegenüber Absprachen und undurchsichtigen Moderationsentscheidungen verringern und Transparenz schaffen, die jetzt von unabhängigen Journalisten wie Bari Weiss und Matt Taibi geleistet werden muss, weil die Verstrickung von journalistischen Eliten mit ihrem liebsten Kommunikationsspielzeugen einfach zu eng ist.
Es ist schwer, zu den Twitter-Files vor all diesen Hintergründen und Komplexitäten eine eindeutige Haltung zu beziehen. Ich denke, meine Meinung lässt sich so zusammenfassen: Macht korrumpiert -- und das gilt nach der Demokratisierung für jeden Nutzer von Publishing-Technologien, insbesondere gilt es aber nach wie vor für Meinungsmacher und Mitarbeiter in Meinungsdistributionsschaltstellen.
English version
For a week now, investigative indie journalists Matt Taibbi and Bari Weiss have been publishing internal documents intended to prove that Twitter abused its power, suppressed journalistic reporting during the 2020 US election campaign and systematically censored conservative users. The documents were made available to a number of independent journalists by Elon Musk after the takeover of Twitter.
The publications are controversial, with opinions ranging from "Nothingburger" (Politico) and "conspiracy theories" and "PR" (NPR) on the one hand to allegations of deception against former CEO Jack Dorsey (WaPo) and harshly worded accusations of censorship against woke-activistic journalists and employees of the platform (WSJ). (Jack Dorsey himself calls for more Twitter files and supports Elon Musk's actions.)
Bari Weiss has published her texts about the Twitter files in her substack newsletter without paywall in (so far) three parts: Twitter's Secret Blacklists, Why Twitter Really Banned Trump, Our Reporting at Twitter.
It is helpful to compare the reporting on the Twitter-Files with the volume of reporting on the Facebook-Files. I alone published a total of six posts about the publication of the documents by whistleblower Frances Haugen and mention them regularly. The reporting on the company's internal misconduct still has an impact today and Zuckerberg himself was "grilled" in a congressional testimony. In contrast, the coverage of the Twitter files and their reach is manageable.
From 2014 to 2022, Twitter has been the largest source of viral phenomena. Viral phenomena are more than image macros and fun videos. Memes also consist of political currents and attitudes, converging public opinions and the build up of consensus -- especially on a platform that may never had the largest number of users and played only a subordinate role in the mainstream, but always has been the platform of choice for journalists. The internal measures for steering viral streams on a platform like Twitter, the favorite toy of the fourth estate, which is decisive for the formation of public opinion, are therefore of an enormous interest for the public.
My own opinion on all of this is not consistent. On one hand, I consider viral dynamics to be essential and at the core of mass communication in the 21st century. An opaque control by an elite cadre of activist employees therefore seems to me -- let's put it very diplomatically -- suboptimal.
On the other hand, the democratization of publishing mechanisms through digital social media offers control options for viral dynamics not only to employees of platforms, but to every user. And so media-manipulative communication techniques are used every day on all platforms (but especially on Twitter), ranging from dog whistling to sealioning, and they essentially pursue exactly the same goal: increasing and decreasing visibility and reach of memes. The strategies are varied and backstage collusion is a very promising one, for everybody.
A common argument for shadow banning and account suspension is that Twitter is a private company and can do whatever it wants. However, following this argument (as i do), one must also recognize the tremendous power that such a platform holds when it is the main focus of viral dynamics across the internet. Twitter was the central hub for the distribution of ideas and memes -- not just in the form of jokes and images, but whole *viral intellectual configurations*: MeToo (or its german counterpart that went viral ages before it became a global phenomenon), for example, would not have been possible without Twitter, or it would have looked very different. Balancing that fact with the ability to direct and disrupt these attention-streams at will is a huge responsibility, and personally I'm just as uncomfortable with the scrutiny of woke-activist staff as I am with the superficial and inconsistent laissez-faire attitude of a libertarian Musk.
Personally, I prefer a vision of Twitter as an open protocol as public property. Such an organization of the "thinking processes of the Hive Mind" as "Fast Microblogging on the Web" could reduce the mistrust about collusion and opaque moderation decisions and create transparency, which now has to be provided by independent journalists like Bari Weiss and Matt Taibi, because the involvement of journalistic elites with their favorite communication toy simply is too intense.
With all this background and complexity, it is difficult to take a clear position on the Twitter-Files. I think my opinion can be summed up like this: Power corrupts -- and that applies to every user of publishing technologies after their democratization, but it still applies in particular to opinion makers and employees in opinion distribution hubs.