Das Drachengame als Symptom der Psychopathologie des Schwarms
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Ein langer Artikel auf SpiegelPlus (Archive-mirror) Ă¼ber die Hetzjagd auf Rainer Winkler, in dem der "Drachenlord" selbst zu Wort kommt und einige HintergrĂ¼nde des wohl weltweit grĂ¶ĂŸten und extremsten Falls von "Cybermobbing" (das Wort trifft in seinem Fall nicht mehr wirklich zu) erklärt.Â
Ich verfolge den Fall seit Jahren, habe auch mit einigen der Täter gesprochen und hatte Einblicke in den "Betrieb der Hassmaschine" durch Zugang zu den Direktnachrichten eines Mithetzers. Die Verfolgung ihrer Opfer durch die Drachenbubble innerhalb des "Sifftwitter"-Netzwerks ist streng arbeitsteilig: Es gibt Menschen, die nur Videos des Drachenlords sichten und fĂ¼r die Hetz-Community zusammenschneiden, es gibt Illustratoren, die Karikaturen anfertigen und WortfĂ¼hrer. Der Fall sprengt jeden moralischen MaĂŸstab und hier wächst eine Täter-Subkultur im Internet heran, die "for the lulz" einen Menschen buchstäblich zu Tode hetzen möchte. So hatten etwa vor einigen Jahren Philosophie-Studenten in einem Vortrag in WĂ¼rzburg Ă¼ber den Fall dem Opfer tatsächlich Suizid nahegelegt.
Meines Erachtens ist der Winkler verfolgende Mob ein Zeichen fĂ¼r das, was ich "Psychopathologie des Schwarms" nenne. Das Internet hat alle sozialen Mechanismen verflĂ¼ssigt, beschleunigt und sichtbarer gemacht, und psychoneurologische Trigger wie Dopamin- und Oxytocin-Shots in einem psychosozialen Baukastensystem demokratisiert: Um einen Dopamin-Shot in den sozialen Medien zu generieren, muss ich nur ein virales Item posten, von dem ich weiĂŸ, dass es meine Peers mögen werden und um einen Oxytocin-Shot zu erhalten, muss ich nur einen aus der Gruppe der Anderen öffentlich vorfĂ¼hren. Das Ausgrenzen von Menschen im Netz befeuert das digitale Spiel um soziales Kapital, eine Mischung aus aufmerksamkeitsgesteuerter Hormonwirtschaft und McLuhans Tribal Village.
Die Hetzjagd auf Rainer Winkler ist kollektivistisch organisierter Sadismus: Trolling ermöglicht das Ausleben sadistischer Triebe ohne die moderierenden gesellschaftlichen Mechanismen der Verantwortung, die im Schwarm schlichtweg verpufft. Auch der friedliebendste Mensch kann im Netz aggressive Triebe ausleben, als minimalsadistisches Partikel in einem maximalsadistischen Schwarm. Genauso wie das Netz die moralistischen Fundamente der Kooperation Ă¼bersteuert und in Phänomenen wie Virtue Signaling und Moral Grandstaning resultiert, Ă¼bersteuert es amoralistische Fundamente der Ausgrenzung. Rainer Winkler ist das grĂ¶ĂŸte Beispiel hierfĂ¼r.
Ăœbrigens mache ich mir nicht allzu viele Sorgen um Rainer Winkler. Trotz der von ihm erlittenen massiven psychologischen Gewalt wirkt er aus der Ferne auf mich als durchaus in seinem Rahmen "stabil" — grade seine trotzige Haltung und seine wehrhafte Einstellung erscheinen mir gesund.Â
Ich mache mir aber Sorgen um eine ganze Generation eines Netz-Untergrunds, die jahrelang als Täter lebt und die Verantwortung fĂ¼r ihre Taten verleugnen und erfolgreich verdrängen kann. Ich persönlich möchte nicht eines Morgens aufwachen mĂ¼ssen in der Gewissheit, Teil eines faschistoiden Hetzschwarms gewesen zu sein, der einen Einzelnen Ă¼ber Jahre gequält hat.
Tatsächlich finden sich Vertreter der Drachenbubble nicht nur in Telegram-Kanälen und in den Niederungen von Sifftwitter, sondern auch in scheinbar ehrwĂ¼rdigen Netz-Institutionen, wo sie sich hinter einer gutbĂ¼rgerlichen Fassade verstecken. Nicht nur Sifftwitter lacht Ă¼ber das kollektiv organisierte Leid von Einzelnen und nicht nur der Drachenlord ist ein Skandal unfassbaren AusmaĂŸes.Â
Um das Problem von Tätern im Netz zu bewältigen, die kollektive, psychosoziale Gewalt in bislang unbekanntem AusmaĂŸ anwenden, benötigt es neuartige soziale Mechanismen, digitale Streetworker etwa, und wir mĂ¼ssen offen damit umgehen, dass jeder von uns psychopathologische Tendenzen aufweist — die sogenannten Persönlichkeitsmerkmale der Dark Triad —, die einen völlig normaler Teil der menschlichen Psyche darstellen. Das Problem der Psychopathologie des Schwarms betrifft nicht nur die "Drachenbubble", sondern uns alle.
(Zuerst erschienen auf Piqd.)
Vorher:
Links
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